Ein Jahr

Ein Jahr Vorbereitungszeit. Vor einem Jahr hieß es "vielleicht ein halbes, ein dreiviertel Jahr". Das war die Zeitvorgabe für die Mutter des Pathologen. Karzinome in den Knochen, an der Wirbelsäule. Durch die Nähe zum Rückenmark nicht bestrahlar. Die Metastasen im Hüftknochen ja, da konnte man bestrahlen.

Ein Jahr, was haben wir nicht alles versucht. Therapien, Strohhalme neuer Mittel und Verfahren, alles ausprobiert. Immer wieder Vorschläge gemacht, Termine vereinbart, gehofft.

Ein Jahr. Das letzte halbe Jahr konnte sie nicht mehr zu uns kommen, die Fahrt hätte zu lange gedauert. Bereits die halbstündige Fahrt in die Klinik zur Chemo war eine Riesenanstrengung. Und die Behandlung selbst. Kaum etwas von dem Mittel ging in den Körper hinein, er wehrte sich. Manchmal war das einzige Ergebnis nach acht Stunden ein großes Hämatom an der Einstichstelle. Selbst ein gelegter Port führte nur teilweise zum Erfolg.

Ein Jahr. Immer wieder verbreitete sie Optimismus, gab sich nicht geschlagen, lenkte geschickt vom Thema ab. Wir hatten noch so viel vor.

Ein Jahr. Ich kam aus Nigeria zurück, Mittwochs, telefonierte mit ihr, bedankte mich für ein Überraschungspäckchen, so kurz vor Ostern. "Ein Frühlingsgruß" stand darauf. Da atmete sie schon sehr kurz. "Lungenentzündung" sagte sie nur. Ob sie denn von der betreuenden Schwester Sauerstoff bekäme wollte ich wissen. Ein langes Gespräch, meist redete sie, obwohl es ihr schwer fiel. Sie würde am Freitag wohl ins Krankenhaus gehen, zum Aufpäppeln, auskurieren der Lungenentzündung, Palliativstation. Da hätten die Alarmglocken angehen sollen.

Ein Jahr. Samstags waren wir unterwegs, im Elsass. Meine Schwester rief mich an. Zufällig war sie in der Nähe, hatte vom Krankenhausaufenthalt erfahren. Ich machte mir keine Sorgen. Abends, um 10, bei Freunden, rief dann mein Stiefvater an. Es ginge ihr schlecht, der Arzt meinte, es sei eine Sache von Stunden.

Ein Jahr. Sonntag nacht rief mein Stiefvater erneut an, null Uhr dreißig. Das Krankenhaus hatte angerufen. Es stünde sehr schlecht. Er führe jetzt hin.

Ein Jahr. Null Uhr fünfzig steht auf dem Totenschein.

Noch Freitags, nachdem sie eingeliefert wurde, sagte sie zu dem Arzt, ob er ihr keine Spritze geben könne. Jedem Tier gäbe man eine Spritze, nur bei Menschen sei es nicht erlaubt.

Ich bin mir sicher, sie wusste es.

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